Episode 6 Des Teufels Finger I - Lügengespinst
Fortsetzung Kapitel 2
Palazzo di Atella nahe Neapel, Juni 1557
Nur leidlich hatte Edelfa das Prozedere der Begrüßung und das üppige abendliche Bankett an der Seite ihres aufgezwungenen Bräutigams unter dessen ausfragender Konversation überstanden.
Im weiteren Verlauf des Abends hielt sie Oreste d‘Alfero durchweg an ihrem Handgelenk fest. Edelfa spürte das unentwegte Streicheln seines Stummelfingers in der Gegend ihrer Pulsader, was ihr unzählige Schauer über den Rücken jagte. Trotz der gestrengen Blicke ihrer Mutter versuchte sie, sich ihm zu entziehen. Doch er war unnachgiebig. Bestimmt hatte man ihm von ihrer Widerspenstigkeit heiratswilliger Verehrer gegenüber berichtet. Anders konnte sie sich seine festen Griffe nicht erklären.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Abgesehen von seinem Alter, er war sicher nicht wenig jünger als ihr Vater, und dem abstoßenden Fingerstummel an seiner rechten Hand, der wohl von einer Verletzung herrührte, musste er in jungen Jahren ein passabler Mann gewesen sein:
Er war durchaus als hochgewachsen und schlank zu bezeichnen. Sein ergrautes Haar wallte noch immer und es umrahmte adelige Gesichtszüge. Die warme, gütige Ausstrahlung seiner Augen trösteten Edelfa und sie zwang sich, ihre Wahrnehmung auf diese und nicht auf sein gealtertes Wesen zu konzentrieren. Aufs Feinste gekleidet und vollendet in seinem Auftreten, stünde sie einem vornehmen Gatten an der Seite…
Am selben Abend wurde, ohne dass man sie gefragt hätte, das offizielle Verlöbnis verkündet und ein alsbaldiger Hochzeitstermin vereinbart. –
„Obgleich ich Euer Vater sein könnte“, verabschiedete sich Oreste d’Alfero danach vertraulich von ihr, „so seid mir hold, teuerste Edelfa. Mein vereinsamtes Herz sehnt sich nach Eurer Lebensfreude, von der man mir berichtete. Eurer harrt ein kleines Reich, in dem es Euch an nichts mangeln wird.“ Unter einem aufgehauchten Handkuss richtete er seinen Blick fest in ihre Augen. „In einem Monat beehrt mich auf meinem Castello[1] und werdet die Meine.“ –
Die darauffolgende Nacht bescherte Edelfa einen Albtraum:
Zur Hochzeitsnacht fand sie sich mit gelöstem Haar in ein feines, knöchellanges Seidenhemd gekleidet. In dieser Aufmachung betrat sie Orestes Schlafgemach, das mit unzähligen Kerzen ausgeleuchtet war. Dort machte sie seine wartende Silhouette hinter dem schimmernden Verhang eines Himmelbettes aus. Langsam ging sie darauf zu, um dann zu ihm zu steigen. Sein graues Haar sah sie zu einem Zopf gebunden. Gleich ihr war er in weiße Seide gehüllt und schwer parfümiert. Er empfing sie mit ausgestreckten Armen und begann, sie unter Liebesbeteuerungen und verführerischem Blick zu entkleiden. Als sie nackt war und er ihren Körper zuerst mit Blicken verschlungen, dann ausgiebig gestreichelt und mit seinen Lippen liebkost hatte, bot er sich ihr in einer Weise dar, die ihr sein Begehren nach der bevorstehenden Vereinigung signalisierte und er von ihr wünschte, dass sie seine Lenden entblößen möge… Er war ihr Gatte. Sie überwand sich, fasste nach ihm… und ein Blick auf seine Männlichkeit ließ sie erschauern: Ihr zeigte sich nichts als sein Stummelfinger, mit dem er, sie unter sich gezogen, versuchte, die Ehe zu vollziehen…
Mit einem Aufschrei fuhr Edelfa aus dem Schlaf. Nassgeschwitzt und unter dem schockierenden, nicht weichen wollendem Einfluss ihres Traumes verweinte sie den Rest dieser Nacht.
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Wenige Tage später suchte Edelfa in ihrer Verzweiflung Trost in der von ihr geliebten Chiesa di San Sossio zu Frattamaggiore. Vor dem Marienaltar warf sie sich auf die Knie und betete unter Tränen inbrünstig zur Gottesmutter.
Padre Gaudenzio, der sie schon getauft hatte und ihr leises Weinen hörte, trat schweigend zu ihr.
„Hochwürden“, sah sie flehend zu ihm auf, „Ihr findet mich in tiefster Verzweiflung!“ Ein schwerer Schluchzer entlud sich Edelfas Brust, als sie die gütigen Blicke ihres Priesters auf sich spürte.
„Was hast du, mein Kind?“ Er schlug ein Kreuz über sie, verneigte sich vor der Madonnenstatue und zog sie mit sich.
„Ich muss mich ehelichen, gegen meinen Willen, versprochen einem alten Mann.“ Wieder weinte Edelfa.
„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat. Auf dass du lange lebest und dass dirs wohl gehe in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“
„Ja, Padre Gaudenzio, ich weiß und ich ehre meine Eltern. Aber will unser Herr, dass ich fern der Heimat unglücklich an der Seite eines alten Mannes leben muss?“
Kopfschüttelnd schob der Priester Edelfa in einen der Beichtstühle. „Beichte, mein Kind, denn mir scheint allzu sehr, du bist voll von Sünde.“
Edelfa beichtete, zitternd und unter Tränen.
Nachdem Padre Gaudenzio ihr die Absolution erteilt hatte, fasste sie nach dem Beutelchen zwischen ihren Röcken und beförderte eine schwere Goldkette zu Tage. Deren Anhänger bestand aus einem wuchtigen, mit einem Rubin besetzten goldenen Kreuz. „Bitte, Hochwürden, segnet dieses Kreuz. Es ist das Verlobungsgeschenk meines künftigen Gatten. An meinem Herzen soll ich es tragen. Es spendete mir weit meiner Heimat ungleich mehr Trost, wüsste ich es durch Euch gebenedeit.“
Ihr Wunsch wurde erfüllt.
„Gehe hin in Frieden, mein Kind“, wurde Edelfa hernach verabschiedet. „Und vergiss nicht: Unser Herr hat durch seinen Sohn das Sakrament der Ehe zwischen Mann und Frau verfügt. Ehre deinen Gatten, auf dass Euch Kindersegen zuteilwird. Erfahre so großes Glück als Frau und Mutter.“
Mit dem Losfahren der Kutsche, die sie zurück zum Palazzo ihrer Eltern brachte, verschwamm nach wenigen Momenten das Portal der Kirche vor ihren tränennassen Augen. Davon zerriss es Edelfa schier das Herz in Abschiedsschmerz, der für sie nur ein Vorgeschmack dessen war, was ihrer weiter harrte:
Der baldige Abschied von ihrem Elternhaus und ihrer Heimat.
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Beunruhigende Nachrichten Oreste d‘Alferos, er befürchtete erneute französische Belagerungsgelüste im Piemont, halbierten Edelfas verbliebene Zeit bis zur Abreise.
Anfangs, bestärkt von der Sorge des Vaters in leiser Hoffnung, dass man von einer schnellen Hochzeit in Anbetracht der unsicheren Lage im Piemont absehen würde, trat auf Betreiben der Mutter das Gegenteil ein. Seit dem Verlöbnis waren keine zwei Wochen vergangen, als zügigst zum Aufbruch gerüstet wurde:
Ihre Kutsche war mit edlen Rappen bespannt und generös mit Aussteuer bestückt, die auf Wunsch des Marchese im Wesentlichen aus Edelfas wertvollen Kleidern und passendem Schmuck bestand. Zum Begleitschutz der Tochter wurde eine sechsköpfige Dienerschaft eingeschworen und man wartete nur noch auf die Zusage der erbetenen Schiffspassage von Neapel nach Genua.
Weil sich diese verzögerte, spekulierte Edelfa darauf, dass ihre Reise an mangelndem Schiffsraum scheitere. – Leider vergeblich. Weinend fand sie sich zur Verabschiedung in den Armen des Vaters.
„Er ist ein guter Mensch, mein geliebtes Kind. Glaube mir. Andernfalls hätte ich einer Verbindung mit ihm niemals zugestimmt. Es wird dir gefallen, das Monferrato. Schnell wirst du dich eingewöhnt haben. Schreibe mir. Schreibe mir jeden Tag. Gott schütze dich.“
Energisch entzog sich Angèlico di Frattamaggiore der Umklammerung seiner bebenden Tochter. Er wandte sich ab und ohne einen weiteren Blick auf die in Tränen zerfließende Edelfa eilte er in den Palazzo.
Weniger innig verlief der Abschied zwischen Tochter und Mutter. Die Worte Padre Gaudenzios im Ohr, konnte Edelfa ihrer Mutter dennoch für den Moment nicht verzeihen, dass man sie derart überstürzt aus ihrem Zuhause riss. Nach lediglich einem verhaltenen Kuss auf die Stirn bestieg Edelfa die Kutsche. Während sich der Schlag hinter ihr schloss, presste sie die Hände vors Gesicht und vergrub sich im Kutscheninneren.
Als man später den Hafen von Neapel erreichte, reagierte sie nur blindlings. Ohne sich um die Einschiffung von Kutsche und Dienerschaft zu kümmern, bestieg sie das Segelschiff. Einzig Celestina widmete sie ihre Aufmerksamkeit:
Tröstend hatte ihr der Vater vom großen Strom namens Po erzählt, den sie in nicht einmal einem halben Tagesritt vom Anwesen ihres künftigen Gatten erreichen könnte. Gesammelt Schneeschmelze und Regen der Zuflüsse aus den nahen, hohen Bergen, speiste das Gewässer die neue Heimat weitläufig mit Wasser. Deswegen hatte sie ihrer Mutter die Erlaubnis abgerungen, dass ihre Lieblingsstute sie in die neue Heimat begleiten durfte. So würde sie auch dort herrliche Sonnenaufgänge erleben können. Obschon nicht das Meeres-, aber wenigstens ein gleichmäßiges Flussrauschen in den Ohren…
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Golf von Genua im Juli 1557
Nach ruhiger mehrtägiger Überfahrt erreichten sie mit der aufgehenden Sonne den Golf von Genua. Edelfa war aufs Erste versöhnt, denn ihren Blicken bot sich eine atemberaubende Landschaft:
Imposante Massive leuchtenden Felsens, die sich unmittelbar hinter der ligurischen Küste auftürmten, wechselten mit den Hügeln des gen Norden ins Landesinnere steil aufsteigendem Apennin. Sattgrün zeigte sich die Südseite dieses Gebirges. Bewaldet, beschirmt von den Baumkronen riesiger Pinien, bewachsen mit bizarren Agaven, Feigenkakteen, Zitrusbäumen, Oliven, Oleander und haushohen Palmen. Wohin sie auch blickte, es blühte in unzähligen Farben. Dazu entdeckte sie prachtvolle schneeweiße Villen, die mutig, fast trotzig, an die Steilhänge der Riviera gebaut waren. Herrliche Sandstrände, hingestreckt zwischen malerischen kleinen Buchten, ließen Edelfas Herz höher schlagen. Sie sah sich bereits im Galopp auf Celestina – ohne die nachfolgende Schelte der Mutter. Einzig die Zustimmung des Gatten vonnöten, würde sie ihm diese im Handumdrehen abringen. Ihre Lebensfreude erwartete er? Er bekäme sie von ihr, im Überfluss!
Angestrengt versuchte sie, sich der Landkarte, die ihr der Vater wieder und wieder gezeigt hatte, zu erinnern. Den Piemont trennte von diesem Paradies, von ihrem geliebten Meer, doch nur ein Streifen des Apennin…
Das laute Rasseln der Ankerkette riss Edelfa aus ihren Träumereien.
Bestärkt und beseelt von der sie umgebenden Natur und den ersten Blicken auf das stolze Genua konnte sie kaum erwarten, von Bord zu gehen und ihre Stute Celestina gut in ihrer Nähe zu wissen. Der Dienerschaft abermals jegliche Ausladung und Regelung überlassen, war sie derweil in Sichtweite des Schiffes am Kai entlangspaziert.
Wenig später fand sie sich wiederum in ihrer Kutsche. Diesmal vergrub sie sich nicht im Halbdunkel des Kutscheninneren. Die Vorhänge aufgezogen, reckte sie ihr Gesicht in den Fahrtwind. Sie sog den würzigen, ihr heimatlichen Geruch des Meeres tief in ihre Lungen und ließ ihre Blicke über die unendliche Weite der türkisblauen See schweifen…
Bis man, keine Stunde vergangen, den ersten Hügel passiert hatte und in ein dahinterliegendes, von dichtem Laubwald umschlossenes, nahezu finsteres Tal eingetaucht war.
Edelfa meinte, ihren Augen nicht zu trauen: Die Landschaft war völlig verändert. Nur vereinzelt fanden sich noch kleine Olivenhaine. Verschwunden waren die Pinien, Palmen, Kakteen, Zitrusfrüchte, der Blütenreigen… Nach wie vor umgab sie herrlich frische Luft. Doch diese war nicht mehr vom Aroma des Meeres gewürzt. Vielmehr füllte sie der Geruch feuchter Erde und verschiedenster Laubbäume…
Als man das Tal durchquert hatte und sich erneut auf einem Hügel befand, ließ Edelfa anhalten. In der Annahme, am Horizont noch immer das Meer zu erblicken, verließ sie die Kutsche. – Umsonst suchten ihre Augen danach:
Regelrecht umschlossen von endlosem hügeligem Grün, umwehte sie ein kühler Wind, der sie frösteln machte. Rein gar nichts erinnerte mehr an den Süden, der ihr Wesen eben noch versöhnlich gestimmt hatte.
Schnell stieg sie wieder ein. Ihre Augen verfolgten noch eine Zeit lang die an ihr vorbeiziehende Landschaft, dann ertrug sie diese nicht länger.
Eingeholt vom Schmerz, der sie, seit sie von ihrer Verheiratung wusste, ununterbrochen begleitete, befahl sie, die Vorhänge der Kutsche zu schließen. Sie erbat eine Decke, verkroch sich in den Polstern, schloss die Augen und hoffte auf Schlaf, der sie in ihrer seelischen Erschöpfung gnädig einholte.
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Lautes Hufeschlagen auf Kopfsteinpflaster und Rufe von Kutscher und Dienerschaft ließen Edelfa aus ihrem Schlummer auffahren. Dunkelheit umfing sie. Ohne wirkliches Zeitgefühl öffnete sie einen der Vorhänge. Scheu blickte sie sich um:
Man befand sich im Hof einer Herberge. „Wo sind wir?“, winkte sie dem Kutscher, der eben mit einem ihrer Diener die Pferde ausspannte.
„In Ovada, Herrin. Zu verbringen hier die Nacht gemäß Anweisung Eurer Frau Mutter.“
„Celestina?“
„Wohlbehalten in der Stallung, Contessa.“
Wie benommen stieg Edelfa aus der Kutsche. Sie ließ sich in eine für sie gerichtete Kammer führen, wo sie die vorbereitete Nachtmahlzeit appetitlos in sich hineinlöffelte. Nach dem Auskleiden betete sie und erflehte schnellen, tiefen Schlaf, damit ihre Gedanken keine Gelegenheit fänden, sie zu peinigen.
Ende Episode 6 Musik: https://www.epidemicsound.com/track/DBHZQWUZtM/ ES_A Song of Lament – David Celeste
[1] ital. für Schloss, Burg